NTZ 20.09.2017: Die Angst vor Hartz IV und Altersarmut

Von Matthäus Klemke.

Bundestagswahl 2017: Bei der Podiumsdiskussion der Nürtinger Zeitung bekamen Schüler die Chancen, mit ihren Bundestagskandidaten ins Gespräch zu kommen

Im Endspurt des Wahlkampfs stellten sich die sechs Bundestagskandidaten aus dem Wahlkreis Nürtingen bei einer Podiumsdiskussion unserer Zeitung am Montagabend den Fragen von Schülern. Die jungen Erwachsenen interessierten sich vor allem für soziale Themen. Viel Kritik gab es für den Umgang mit Trump und den USA.

NÜRTINGEN. Es waren über 60 Schüler vom Hölderlin-Gymnasium, der Fritz-Ruoff-Schule, des Gymnasiums Neckartenzlingen, der Albert-Schäffle-Schule, der Philipp-Matthäus-Hahn-Schule und der Rudolf-Steiner-Schule, die der Einladung der Nürtinger Zeitung ins Stadtbüro am Obertor gefolgt waren.

Und die Bundestagskandidaten der CDU, SPD, Grünen, FDP, Linken und AfD nahmen sich Zeit für die Fragen der jungen Wähler – auch wenn Matthias Gastel (Die Grünen), Renata Alt (FDP) und Vera Kosova (AfD) aufgrund terminlicher Überschneidungen erst im Laufe des Abends zur Diskussionsrunde dazustießen.

So blieb es zunächst Michael Hennrich (CDU), Nils Schmid (SPD) und Heinrich Brinker vorbehalten, auf die Anliegen der jungen Erwachsenen einzugehen – und davon gab es einige. In den Fragen spiegelte sich deutlich wider, was die Schüler umtreibt: Angst vor Arbeitslosigkeit, Altersarmut und ein ungerechtes Schulsystem.

Auch nach dem offiziellen Ende der Veranstaltung wurde weiterdiskutiert.

Gleich nachdem Moderator und NZ-Redakteur Andreas Warausch die Gäste begrüßt hatte, gingen die ersten Finger im Publikum in die Höhe. „Wie stehen Sie zum ,Bedingungslosen Grundeinkommen‘?“, wollte einer der Schüler wissen. Ein harmonischer Einstieg in einen Abend, der die ein oder andere hitzige Diskussion zu bieten hatte, denn beim Thema Grundeinkommen waren sich die Kandidaten einig: Sie lehnen ein solches Modell ab. „Arbeit ist etwas Sinnstiftendes. Wir wollen in einer Arbeitsgesellschaft leben“, so Schmid.

Hennrich versicherte, dass „niemand im Parlament diese Debatte ernsthaft weiterverfolgt“. Gastel warnte: „Ein Bedingungsloses Grundeinkommen wäre die größte Reform in der Geschichte der Bundesrepublik. Welche Effekte eintreten, kann man nicht absehen, und die könnte man dann auch nicht wieder korrigieren.“ Statt eines Grundeinkommens fordert Brinker eine Mindestsicherung von 1050 Euro für Arbeitslose und die Abschaffung von Hartz IV.

Brinker brachte außerdem die von den Linken geforderten zwölf Euro Mindestlohn ins Spiel. Während im Publikum der ein oder andere Schüler zustimmend nickte, sorgte der Vorschlag für die ersten Stirnrunzler bei seinen Mitbewerbern. „Ich frage mich immer, wann Sie den Goldesel mitbringen, mit dem Sie das alles bezahlen wollen“, so Schmid.

„Da setze ich mal einen Kontrast zu, damit etwas Stimmung reinkommt“, holte Hennrich aus: „Bei zwölf Euro Mindestlohn wird die Cola in der Gaststätte auch teurer, die dann keiner mehr kaufen will. Ein zu hoher Mindestlohn könnte Arbeitsplätze kaputtmachen.“

Angst vor Arbeitslosigkeit – vor allem bei den Berufsschülern ist dieses Thema akut: „Trotz einer guten Ausbildung hat man oft nicht die Möglichkeit, in einen attraktiven Beruf zu kommen, weil Arbeitnehmer immer Berufserfahrung voraussetzen“, beschwerte sich ein Jugendlicher. Gastel sprach sich für mehr Praktika für Schüler aus: „Außerdem sollte an allgemeinbildenden Schulen mehr über Berufe informiert werden“.

Wer keinen Job findet, der ist auf Hartz IV angewiesen – für junge Menschen ein Schreckensszenario. „Wie wollen Sie uns aus der Hartz-IV-Falle retten?“, fragte ein junger Mann. Für Brinker ist der einzige Weg aus dem „Teufelskreis“ eine optimale Kinderförderung. Für die Linken gehört dazu eine freie Bildung von der Kita bis zur Hochschule.

Schmid wollte beim Thema Hartz IV nicht von einer Falle sprechen: „Es ist ein Trampolin“, sagte der SPD-Kandidat. Auch er setzt auf Bildung: „Wir müssen zusehen, dass die Leute qualifiziert genug sind, um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen.“ Hennrich gab zu bedenken, dass es aus zwei Gründen schwer sei, Leute aus der Hartz-IV-Spirale herauszuholen: „Zum einen sind die individuellen Fälle nicht einfach und zum anderen tun sich die Arbeitgeber schwer, diese Menschen einzustellen.“

Kinder seien laut Schmid das „Armutsrisiko Nummer eins“, deshalb müsse man die Kinderbetreuung ausbauen und ein Absinken des Rentenniveaus verhindern. Jeder der 35 Jahre oder länger gearbeitet hat, soll eine Solidarrente zehn Prozent über der Grundsicherung erhalten. „Hört sich alles gut an, aber ich höre das schon seit Jahren, und was ist passiert? Nix!“, warf Brinker ein und erntete Applaus vom jungen Publikum. Er bevorzuge ein ähnliches Rentensystem wie in Österreich. Ein Vorschlag, für den er sich von einer Schülerin Kritik anhören musste: „Mein Vater wohnt in Österreich. Das Rentensystem dort ist total lückenhaft“.

Digitalisierung von Schulen und Lehrern?

Nach gut einer Stunde verabschiedete sich Gastel wieder, der zu einer Veranstaltung mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann in der Kreuzkirche musste. „Ich kann ja hingehen, wenn du willst“, scherzte CDU-Politiker Hennrich. Die trockene Antwort seines Mitbewerbers Gastel: „Nein danke, zu viel Schaden.“

Pünktlich zum Themenkomplex Bildung stieß FDP-Kandidatin Alt zur Runde, kurz darauf auch AfD-Bewerberin Kosova. Gleich mehrere Schüler nahmen die Gelegenheit wahr und sprachen sich für ein einheitliches Schulsystem aus. Hennrich und Schmid argumentierten dagegen: „Das wäre der Untergang des deutschen Bildungssystems“, so Schmid. Alt plädierte dafür, „Standards anzugleichen“. Die FDP fordert eine Investition von 1000 Euro pro Schüler. „Jeder Schüler sollte heutzutage mit einem Laptop ausgestattet sein“, so Alt.

Auch die CDU möchte mehr in die Digitalisierung investieren. „Dann müssten aber auch die Lehrer digitalisiert werden“, rief ein Schüler aus dem Publikum und bekam dafür Applaus von den anderen Anwesenden.

Statt auf Digitalisierung möchte AfD-Kandidatin Kosova auf „Lehrer, die begeistern“ setzen. Um dem Lehrermangel entgegenzuwirken, müsse man auch qualifizierte Kräfte aus dem Ausland holen. Mithilfe eines Einwanderungsgesetzes möchte die AfD „Menschen zu uns holen, die auf dem Arbeitsmarkt gebraucht werden“, so Kosova. Auch Alt befürwortet ein Einwanderungsgesetz.

Ein Schüler warf den Politikerinnen vor, sich die „besten Menschen rauspicken zu wollen und den Rest zurückzuschicken“.

Hitzig debattiert wurde beim Thema Außenpolitik. Einer der Anwesenden wollte wissen, wieso gegen Russland Sanktionen verhängt werden, gegen die USA jedoch nicht. „Die AfD hält nichts von Sanktionen“, sagte Kosova: „Wer mit Erdogan redet, der muss auch mit Putin und Trump reden.“ Überraschend emotional reagierte Nils Schmid: „Ich warne ausdrücklich davor, Russland und die USA auf eine Stufe zu setzen. Da muss man höllisch aufpassen.“

Immerhin herrsche, trotz allem, in den USA immer noch eine Demokratie, während die russische Regierung klar gegen demokratische Prinzipien verstoße. Eine Schülerin hielt dagegen und wies auf offenen Rassismus in den USA hin. Unterstützung bekam sie von Brinker: „Wann werden endlich Akzente gegen diese USA gesetzt?“

Die kniffeligste Frage zum Schluss

Während die Politiker auf die Fragen der Schüler recht souverän und ausführlich reagierten, kamen sie bei der Abschlussfrage doch etwas ins Stocken. Moderator Warausch wollte wissen: „Wen würden Sie wählen, wenn Sie sich selbst nicht wählen dürften?“ Nach einiger Überlegungszeit entschied sich Hennrich für FDP und SPD. „Man hat ja zwei Stimmen“, merkte der CDU-Politiker an. Alt würde beide Kreuze bei Hennrich machen. Brinker sprach sich für die SPD aus.

Am Ende schlugen die Emotionen an dieser Stelle noch einmal hoch. SPD-Kandidat Nils Schmid appellierte, „keine ausländerfeindliche und antisemitische Partei wie die AfD zu wählen“. Kosova drohte im Gegenzug mit rechtlichen Schritten, worauf Schmid mit einem „Dann zeigen Sie mich doch an“ antwortete. Eine Antwort auf die Frage von Moderator Warausch fand die AfD-Kandidatin im Eifer des Gefechts dann nicht mehr.

Natürlich konnte nicht jedes Thema in der doch über zwei Stunden dauernden Runde ausführlich besprochen werden. Deshalb nahmen sich die Kandidaten auch noch nach dem offiziellen Teil der Veranstaltung Zeit und kamen mit den jungen Gästen ins Gespräch. Es war ein Abend mit interessanten Einlassungen der Politiker, am beeindruckendsten aber war die Ausdauer und das Fachwissen der Schüler.

“So nah dran wie sonst nie“

20.09.2017, Von Matthäus Klemke

Nach der Podiumsdiskussion haben wir uns unter den Schülern umgehört

NÜRTINGEN (pm). Was hat euch gefallen? Was weniger? Das wollten wir nach der Podiumsdiskussion im Obertor von den Schülern wissen.

Clara Traub fand es nicht nur inhaltlich interessant. „Es war auch interessant, die Leute mal persönlich zu treffen und zu sehen, wie sie agieren. Sympathisch kam Nils Schmid rüber, aber auch Matthias Gastel.“

Marie Schweizer fand vor allem die Diskussionen um die Bildungs- und Außenpolitik interessant: „Die unterschiedlichen Arten, wie argumentiert wurde, waren spannend. Die einzelnen Positionen sind für mich persönlich deutlicher geworden.“

Manuel Kampa fühlte sich von den Kandidaten ernst genommen, hat aber auch Kritik: „Man war so nah an den Politikern dran wie sonst nie. Sie haben die Fragen wirklich besprochen und ernst genommen. Allerdings fand ich es nicht so gut, dass versucht wurde, von gewissen Themen auf die Flüchtlingspolitik zu springen.“

Friedemann Leinbach war überrascht, dass so viele soziale Themen angesprochen wurden: „Ich hätte erwartet, dass mehr über wirtschaftliche Themen und Themen aus der Berufswelt gesprochen wird. Ich fand es gut, dass ein offenes Gespräch zustande gekommen ist, bei dem jeder zu Wort kam und auch jeder seine Fragen stellen konnte. Allerdings fand ich es schade, dass bei vielen Themen keine konkreten Antworten gegeben wurden, zum Beispiel beim Thema Wohnungsbau.“

Mark Frey hätte gerne noch weiterdiskutiert: „Es war schade, dass wir nicht mehr Zeit hatten. Gerade zum Schluss, als es beim Thema Außenpolitik etwas hitziger zur Sache ging, hätte ich gerne noch weitergemacht. Für mich war das die erste Gelegenheit, die Politiker mal persönlich zu sprechen. Ich denke, aus den Antworten kann ich einiges für mich schließen.“